METODO

International Studies in Phenomenology and Philosophy

Book | Chapter

221319

(1994) Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer.

Die Lebensvorzüge der Industriegesellschaft und ihre Folgelasten

In welchem Verhältnis stehen sie zueinander?

Hermann Lübbe

pp. 190-198

Es ist für die moralische Verfassung der Industriegesellschaft durchaus wichtig, unter dem Druck ihrer aktuellen Schwierigkeiten sich die mit ihr verbundenen, in keiner früheren Geschichtsepoche erreichbar gewesenen Lebensvorzüge nicht ausreden zu lassen, aus deren Evidenz die Dynamik industriegesellschaftlicher Evolution einzig erklärbar ist. Wohlfahrt, das Ende physisch korrumpierender Arbeit, die Befreiung von der Angst vor dem Hunger, die Anhebung des durchschnittlichen Gesundheitsniveaus, die Absenkung der Säuglingssterblichkeitsrate insbesondere und die Anhebung der Zahl der Jahre durchschnittlicher Lebenserwartung, die soziale Freisetzung zu Chancen der Selbstbestimmung, insbesondere die Ausweitung disponibler Lebenszeitanteile, die Erhebung von Freiheiten in den Status gemeiner Bürgerrechte, ja das aus der waffentechnischen Evolution resultierende Verschwinden pragmatischer Zwecke, die früher einmal Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln definierbar gemacht hatten — diese einzig im Kontext der modernen Zivilisation erreichbar gewordenen Lebensvorzüge sind durch die Schwierigkeiten, in die wir zivilisationsabhängig inzwischen geraten sind, nicht als Illusionen erwiesen. Das gilt auch dann, wenn man, wie angemessen, die aufgezählten und erläuterten Lebensvorzüge nicht mit Lebenszwecken der letzten Instanz verwechselt. Die Orientierung an jenen Lebensvorzügen ist eo ipso weder vermessen noch dekadent. Es handelt sich vielmehr um eine moralisch zustimmungsfähige Orientierung, ja sogar um eine moralisch zustimmungspflichtige Orientierung immer dann, wenn die fraglichen Lebensvorzüge als die Vorzüge anderer handlungs-und einstellungsbestimmend wirkten. In den sozusagen klassischen Epochen der modernen Aufstiegsgesellschaft, die inzwischen hinter uns liegen, hatte der Satz "Unser Kind soll es einmal besser haben" Gemeinspruchcharakter. Er forderte, und zwar keineswegs nur in Extremfällen, moralische Leistungen der Selbstaufopferung, und wenn auch die Aktualität dessen durch Fortschritte des Sozialstaats inzwischen geringer geworden ist, so genügt es doch zu wissen, was in der sogenannten Dritten Welt heute nötig ist, um den moralischen Verpflichtungscharakter zivilisatorischen Fortschritts zu erkennen. Es hieße, sich selbst moralisch unglaubwürdig machen, wenn man, im Vollgenuß der Lebensvorzüge unserer Zivilisation, Dritte, die, armutsbedrängt, Hoffnungen auf die moderne Zivilisation setzen, über den illusionären Charakter dieser Hoffnungen belehren würde. Das gilt auch dann, wenn allein schon aus ökologischen Gründen unsere westliche Art zu leben niemals zu einer global expandierten Lebensart werden könnte. Alsdann wären Ausgleichs-und Angleichungsvorgänge die Konsequenz, nicht aber die Verwandlung derzeitiger Armutsregionen in Kulturparks, die den Touristen aus den Industrieregionen Gelegenheiten zu wohlfahrtsbedingten Armutsnostalgien bieten.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-642-57937-0_16

Full citation:

Lübbe, H. (1994). Die Lebensvorzüge der Industriegesellschaft und ihre Folgelasten: In welchem Verhältnis stehen sie zueinander?, in Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer, pp. 190-198.

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